Der Wehrgang in Reval
1. Kapitel
Der Mann auf dem Wehrgang
Hieronymus Lohebrannt wischte die Tinte von der Feder ab und ließ den Löschsand von seinem Schriftstück abgleiten, dem letzten für heute. Er musste seine Arbeit beenden, bevor Augen und Hand zu müde wurden.
Dabei war so viel zu tun. Er war von früh bis spät mit der Korrespondenz seines Dienstherren, des Gouverneurs Oxenstierna, beschäftigt. Hin und her gingen die Briefe, teils mit dem gleichnamigen Kanzler von Schweden, seinem Onkel, teils mit dessen Sohn, der in Münster war und über einen Frieden verhandelte, der einen Krieg beenden sollte, welcher nun in sein 26. Jahr ging. Die schwedische Thronfolgerin war noch nicht offiziell im Amt. Schweden und die von dieser Nation eroberten Ländereien wurden vom Kanzler regiert, der seinen Cousin Gustaf in Reval das östliche Grenzland verwalten ließ.
Hieronymus, der bereits die vierzig Jahre überschritt, war von dem langen, ermüdenden Krieg nicht verschont worden. Er hinkte ein wenig seit einer Verwundung, die ihm erlaubt hatte, den Kriegsdienst zu quittieren; ein Kontor bei einem Kaufmann in Lübeck war bis vor kurzem sein Arbeitsplatz.
Noch vor wenigen Tagen hatte Hieronymus eine Fahrt von diesem Kontor nach Reval begleitet. Hier im Baltikum war es ruhig, man merkte wenig vom Krieg, während in Norddeutschland die Schweden und die Dänen von Neuem aneinandergerieten. Die Reise ging über Rostock und Åbo, wo man weitere Waren an Bord nahm, dann kam die elegante Fleute – ein holländischer Dreimaster – mit gutem Wind zügig an den Inseln vorbei und erreichte die Revaler Bucht, wo der spitze Turm von St. Olaf als erstes grüßte, flankiert von einem vermutlich uneinnehmbaren, dicken Kanonenturm. Nun begann die bekannte Prozedur der Verzollung. Den ganzen Tag protokollierte Hieronymus die Entladung und Übernahme der Waren durch die örtlichen Händler, die Weinfässer, Bierfässer, Säcke mit Salz, Tabak oder Hopfen ausluden, und sie verteilten sie auf ihre Wagen oder per Flaschenzug in den großen Speicherbau am Alten Markt. Einige Weinfässer waren vom Rathaus bestellt; ein Sekretär des Gouverneurs zahlte bar und ließ sich eine Quittung schreiben.
Auf Einladung des Weinhändlers aß er mit ihm zusammen, war aber zu müde, um dem Gespräch zu folgen, dem sich Freunde des Händlers anschlossen. Lohebrannts Verstummen bemerkten sie kaum.
Für die Nacht nahm er ein Zimmer in einer bescheidenen Pension im Nikolai-Viertel, wo es nach dem Rauch der Schmiede und den Rössern des Marstalls roch. Er legte sich früh schlafen.
Morgen würde er die Rückfracht kontrollieren, nämlich Roggen, Kerzenwachs und Talg, Hanf, Pelze, Holz. Dann würde er die Barzahlungen überprüfen, sie in die Listen eintragen und die Heimreise antreten. Er sah nichts anderes als Kisten, Fässer und Säcke, als er die Augen schloss, aber er gestand sich keinen Überdruss zu.
Anderntags ließ ihn der Gouverneur zu sich bitten. Innerlich wappnete sich Lohebrannt, man werde ihm einen Fehler ankreiden, weshalb er dem Ruf ins Rathaus mit ein wenig Unbehagen folgte, zumal der Bote sich über die Absichten seines Herrn ausschwieg,.
»Lohebrannt! Schön, dass wir uns kennenlernen! Ihre Schrift kenne ich schon. Sie sind doch vergeudet an ein Kaufmannskontor, in dem Sie Frachtlisten schreiben müssen«, trompetete der stattliche Gouverneur ihm entgegen, kaum, dass er den Audienzsaal im Rathaus betrat, »Ihre Schrift könnte meine Briefe an Papst und Kaiser zu Kunstwerken machen. Wollen Sie für mich arbeiten?«
Da lag die Quittung, die er geschrieben, vor dem Gouverneur auf dem Tisch. Lohebrannt brauchte einige Augenblicke, um sich zu fassen. Niemals hätte er von einer solchen Stellung zu träumen gewagt.
Er verbeugte sich tief und schnitzte ein paar verbale Artigkeiten, um seine Freude und Zustimmung auszudrücken. Inzwischen versammelten sich einige Honoratioren der Stadt im Saal, und man gratulierte dem Gouverneur zu seiner Heirat, die in Stockholm statt-gefunden. Die Braut würde ihm nach Reval folgen, eine ehemalige Hofdame der jungen Königin, Mädchen aus gutem Hause, eine geborene De la Gardie. Auch Lohebrannt versäumte nicht, seine Glückwünsche auszusprechen, und zog sich dann zurück.
Sogar für eine Unterkunft war bereits gesorgt. Ein Haus, das ihm schon bei einem kleinen Rundgang als eins der schönsten in der Langstraße aufgefallen war, beherbergte unverheiratete Kaufleute und hatte im obersten Stock ein Zimmer mit Nebenkammer frei.
Das
Schiff seines bisherigen Dienstherren segelte ohne ihn zurück nach
Lübeck, nachdem er einen Kündigungsbrief an den Kaufmann sowie die
Gelder und Listen an den Kapitän übergeben hatte.
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